11. Klasse. Morgens um acht zur 1. Stunde. Wir warten auf unsere Lehrerin. Auch ein paar aus der Klasse fehlen noch. Allesamt Leute, die mit der S-Bahn zur Schule kamen. Wir haben wahrscheinlich vermutet, dass eine Bahn ausgefallen ist oder Verspätung hatte. Wir haben gewartet, uns unterhalten. Irgendwas.
Dann betrat unsere Lehrerin den Raum. Sie gehört zu den Menschen, denen man die innerliche Verfassung kaum ansieht. An diesem Tag stand ihr die Erschütterung ins Gesicht geschrieben. Sie beginnt zu erzählen. Der Regionalverkehr war unterbrochen. Auch die S-Bahn war davon betroffen. In Petershagen, ein Dorf weiter. Einige von uns wohnten auch dort.
Ein Junge wurde an diesem Morgen von einer Regionalbahn erfasst. Er ist dabei gestorben. 28 Köpfe haben 1 Bild vor Augen. Der breite Bahnübergang diesen kurzen Weg hinter dem S-Bahnhof. Sie berichtet weiter. Der Junge war auf dem Weg zur Schule. Die Bahnschranken waren heruntergelassen. Das sei sicher. Aber weil so lange kein Zug kam, sei der Junge einfach rübergegangen.
Die Regionalbahn hält nicht in Petershagen. Entsprechend schnell fährt der Zug an dieser Stelle. Vor meinem Auge der an dieser Stelle breit angelegte Bahnübergang. Nichts, was man mit ein paar Schritten und in ein paar Sekunden überqueren könnte. Die Schranken noch ein Stück hinter den Bäumen. Links und rechts kaum etwas zu sehen. Ich denke an meine eigenen Erfahrungen mit diesem Bahnübergang. Die Schranken gehen runter, lange bevor etwas passiert. Man steht da und fühlt sich verarscht. Und selbst dann dauert es noch ein paar Augenblicke bis der Zug vorbei rauscht. Der Versuch zu verstehen. Ja, so etwas ähnliches könnte in dem Jungen vorgegangen sein.
Zurück im Klassenraum. Ich blicke in die umliegenden Gesichter. Erschütterung auf allen von ihnen. Stille, die im Hintergrund wabert. Im Vordergrund ein Gespräch zwischen der Lehrerin und ein paar Schülern. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte oder fühlte, nachdem mein innerer Erklärungsversuch halbwegs zu einem Ergebnis gelangt war. Aber aus meinem Gesicht war die Erschütterung gewichen. Das weiß ich, weil meine damalige beste Freundin und Banknachbarin mich fragte, ob mich das denn nicht auch bewegen würde. Ich weiß nicht mehr, was ich genau sagte. Ich weiß noch, dass ich ihr meine gewichene Erschütterung nicht erklären konnte. Und ihre Reaktion. Zorn, noch mehr Erschütterung und der dahingehauchte Satz, dass sie mir wünscht, dass so etwas nie meinen eigenen Kindern passieren möge. Sie sagte das mit all dem Unverständnis über meine unnahbare Haltung in diesem Moment. Mit all dem Zorn über den unnötigen Tod dieses kleinen Jungen, der sich nun gegen mich richtete.
Die Erschütterung indes wollte sich auch dann nicht wieder einstellen. Ich musste an die zigtausend Kinder denken, die jeden Tag unnötig sterben. Weil auf der Welt zwar genug Nahrung vorhanden, diese aber ungleich verteilt ist. Weil Medikamente zu unfassbaren Preisen verkauft werden, obwohl die Pharmaunternehmen ihre Forschungsausgaben längst wieder drin haben. Ich musste daran denken, dass der unnötige Tod dieser zigtausend Kinder nicht auch nur annähernd dieselbe Erschütterung hervorruft, wie dieser kleine Junge aus Petershagen, der über den Bahnübergang geht, obwohl die Schranken unten sind, und dabei von einem Zug erfasst wird.
Und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wieviel Zynismus auf wievielen Ebenen in diesem Gedanken steckte, bei mir selbst und in dieser Welt, ging der Unterricht und der Alltag für uns alle weiter.
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