Gestern sprang das Thema Thiesen und seine Holocaust-Äußerungen und Meinungsfreiheit durchs Netz. Ich las schon im Vorfeld des Piratenparteitages von Thiesens Äußerung und dann auch seine Stellungnahme im Piratenwiki. Gestern schwappten aufgrund viel Arbeit meinerseits nur ein paar Reaktionen zu mir herüber. Und die haben mich, gelinde gesagt, erschüttert.
Am krassesten fand ich Argumentation (bei mspro in den Kommentaren durchdiskutiert): Wer gegen die Zensursula-Pläne gekämpft hat, der darf jetzt konsequenterweise nichts gegen Äußerungen sagen, die den Holocaust relativieren/leugnen, weil es geht ja in beiden Fällen um die Erhaltung der Meinungsfreiheit. Bitte? Geht’s noch? Zu sagen, Meinungsfreiheit gelte absolut, hieße Kinderpornographie de facto zu legalisieren. Denn da schwingt mit, alles im Raum stehenzulassen, was irgendjemand irgendwo und in irgendeinem Medium äußert. Und darum ging es mitnichten. Es ging und geht bei der Zensursula-Debatte um einen Weg der transparenten und rechtsstaatlichen Auseinandersetzung mit strafrechtlich relevanten Inhalten, was eben nicht von einer kleinen Elite hinter verschlossenen Türen, verborgen vor den prüfenden Augen und Köpfen der Öffentlichkeit, stattfinden darf.
Und genau das ist auch hier wieder des Pudels Kern. Wie geht eine Gemeinschaft mit Äußerungen und Denkweise Einzelner bzw. quantitativ kleinerer Gruppen um, die den diskursiv dominanten Überzeugungen und Einstellungen widersprechen. Es geht immer wieder um die Frage, wie frei ist frei und wo liegen die Grenzen des Einzelnen in seiner Gemeinschaft. Und es ist gut, dass diese Frage immer wieder aufgerufen und somit von jedem von uns immer wieder durchdacht und bewusst gehalten wird.
Thiesen selbst scheint nach wie vor der Überzeugung zu sein, dass das mit dem Vergasen (Stellungnahme, Pkt. 4), also dem konkreten Wie der Tötungen, eine nicht ganz so gesicherte Tatsache sei, wie es unsere Geschichtsbücher, die Videos und Beschreibungen der Befreier, die Berichte der Überlebenden, die Dokumente und Überreste der Konzentrations- und Vernichtungslager darstellen. Trotz der explizit von ihm befürworteten Bemühungen, ein solches System nie wieder zu ermöglichen, ist das in meinen Augen eine Relativierung der Geschehnisse zwischen 1933 und 1945. Und das Argument, dass die Emotionalisierung des Holocaust-Themas gerne eingegesetzt wird, Kritik gegen aktuelle parallele Tendenzen niederzubügeln, stimmt zwar, darf aber mitnichten dazu führen, den Holocaust selbst zu relativieren – egal wie stark die Terminologie auch emotional konnotiert ist. Das ist nebenbei auch strategisch (d.h. in der Auseinandersetzung mit der aktuellen Politik) extrem kontraproduktiv und spielt denen in die Hände, gegen die man kämpft.
Und zu behaupten, man können hier persönliche Meinung und Parteimeinung strikt trennen, ist naiv und allerhöchsten gut gemeint. Und wir alle wissen, wovon gut gemeint das Gegenteil ist. Nicht der sich Äußernde entscheidet, ob die Trennung möglich ist. Das entscheiden immer die anderen und der Diskurs, der sich rund um eine solche Frage entfaltet. In diesem, wie in vielen anderen Fällen, führte der Diskurs dazu, dass der Parteivorstand die persönliche Meinung nicht getrennt von Auswirkungen auf die Parteiarbeit betrachtet.
Und noch was am Rande. Thiesen schreibt in Punkt 2 seiner Stellungnahme zu Demos gegen die NPD: “ebenso empfinde ich es auch nicht als sinnvoll, große Gegendemonstrationen gegen die NPD zu veranstalten. […] Man kann gerne gegen politische Meinungen Demonstrieren, aber doch bitte nicht gegen Parteien selbst.” Das ist einfach nur dumm und es widerspricht dem, was Thiesen gleichzeitig befürwortet, nämlich Meinungsvielfalt. Wenn ich gegen eine Partei demonstriere, demonstriere ich damit logischerweise auch gegen eine politische Meinung. Was sonst vertritt denn bitte eine Partei? Und die Präsenz von Demo und Gegendemo bringt Meinungsvielfalt immer noch am allerbesten zum Ausdruck.
Das sind mehr so ein paar Aspekte. Das alles wird mir grade zu komplex, als dass ich hier irgendwas Rundes schreiben könnte. Da wäre ja auch noch der innerparteiliche Umgang in 2008 und jetzt vor und während des Bundesparteitages, der heftig kritisiert wurde. War die Abmahnung in 2008 ausreichend? Hätte vor dem Parteitag nochmals eine Problematisierung stattfinden müssen? Gerade auch im Kontext der Seipenbusch-Äußerung? Hätte jeder Einzelne, auch außerhalb der Partei, schon vor dem gestrigen Tag seine Empörung stärker zum Ausdruck bringen müssen? Ich z.B. habe schon irgendwann letzte oder vorletzte Woche Thiesens Stellungnahme gelesen. Aber da war keine innerliche Reaktion, die mich zu einem Post wie diesem angeregt hätte. Was sagt das über mich (und jeden anderen, der die Stellungnahme vorher gelesen hatte, aber erst gestern in die Diskussion einstieg bzw. eingehender darüber nachdachte) aus?